Gerechtigkeit und Grenzen. Für eine Transformation zu einer wachstumsbefriedeten Gesellschaft.

Gerechtigkeit und Grenzen. Für eine Transformation zu einer wachstumsbefriedeten Gesellschaft.

Von Tilman Santarius.

In: Jahrbuch Gerechtigkeit V: Jenseits des Wachstums – Wege zu einer sozial und klimagerechten Welt, 2010.

„Ein einziger Taler, der im Jahre null zu sechs Prozent Zinsen auf ein Bankkonto gelegt worden wäre, würde bis zum gegenwärtigen Tage mit allen Zinseszinsen eine Geldsumme ergeben, die dem Gegenwert mehrer Goldkugeln vom Umfang unseres Erdenballs entspräche – vorausgesetzt, dass diese Bank heute noch existierte“ – rechnet uns Tyrannia Vamperl in Michael Endes Kinderbuch mit dem bezeichnenden Titel „Der satanarchäolügenialkolhöllische Wunschpunsch“ vor. Was in Kinderbüchern noch offen als Widerspruch entlarvt wird, gilt im größten Teil der Gesellschaft heute als gottgegebener Glaubenssatz. Alles könne immer und stetig wachsen: unser Einkommen, unser Guthaben auf dem Bankkonto, die volkswirtschaftliche Leistung des ganzen Landes, unsere materiellen Besitztümer… Wachstum sei ein Naturgesetz des Lebens, Endlichkeit der Ressourcen und Tod hingegen etwas, was erst danach komme, wird uns in der Konsumgesellschaft von heute suggeriert. Ist das – um mit Michael Ende zu sprechen – ein Wunschpunsch, gar eine teuflische Lüge, oder schlicht die Genialität der modernen Industriegesellschaft?

Episode Wachstumsgesellschaft

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Vorstellungen von stetem Wirtschaftswachstum historisch gesehen ziemlich jungen Datums sind. Jahrtausendelang ist das Wirtschaftswachstum im Schnitt nur um 0,05% pro Jahr gewachsen, was im Wesentlichen auf die schleichende Bevölkerungszunahme zurückgeführt werden kann. Wertvorstellungen und Mentalitäten, ob im Abend- oder im Morgenland, waren keineswegs auf Wachstum getrimmt. Persönliche Biographien ließen wenig materielle Wachstumsträume zu. Wenn überhaupt, dann waren Wachstumsvorstellungen die längste Zeit der menschlichen Geschichte Ausdruck eines generationenübergreifenden Projekts. Selbst noch in den Anfängen des Kapitalismus, wie Max Weber gezeigt hat, dienten Fleiß und Arbeitsamkeit und Gewinnstreben nicht etwa dazu, das individuelle Geldvermögen immer weiter zu mehren; vielmehr galten sie als konsequente Tugendübungen zur Bewährung des Gnadenstands, waren letztlich Ausdruck des Dienens Gottes auf Erden und nicht der individuellen Nutzenmaximierung.[1]

Erst seit die Errungenschaften der fossil betriebenen Industriemoderne im 20. Jahrhundert die Breite der Bevölkerung erreichten, begann sich die Vorstellung in den Köpfen einzunisten, dass Wirtschaftswachstum und Geldvermehrung ein Schlüssel zur persönlichen wie auch zur gesellschaftlichen Glückseligkeit seien. 1967 wurde mit dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz in Deutschland das Wirtschaftswachstum gar zum Staatsziel erklärt. Seither führen Politiker aller Couleur das Wirtschaftswachstum als magisches Allheilmittel für alle möglichen Zwecke ins Feld – besonders auch für die Gerechtigkeit. Wirtschaftswachstum sei, so heißt es etwa, notwendig für gesellschaftliche Umverteilung und Abdämpfung sozialer Ungleichheiten; für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Sicherung der Renten; um kostenlose Bildung für alle garantieren oder die Kinderbetreuung für mehr Geschlechtergerechtigkeit ausbauen zu können.

Unzweifelhaft hat sich die materielle Situation nahezu aller Bürgerinnen und Bürger in den Industrieländern in den Jahrzehnten des fossil-betriebenen Wachstums, namentlich seit dem Zweiten Weltkrieg, dramatisch verbessert. Doch ist die Gesellschaft gerechter geworden? Die soziale Ungleichheit jedenfalls hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen.[2] Die Zahl der Hungernden weltweit, wie auch die relative Armut in den Industrieländern, ebenfalls.

Relevant ist zudem die Frage, ob Wachstum als Strategie für Gerechtigkeit in den nächsten Jahrzehnten überhaupt noch zur Disposition stehen wird? Der Club of Rome hat mit seinem Report „Die Grenzen des Wachstums“ diese Annahme schon 1972 in Zweifel gezogen. Und heute spricht mehr denn je für die Prognose, dass es nicht ewig so weitergehen kann, wie bisher. Vielmehr zeichnet sich ab, das die Wachstumsjahrzehnte im Licht der Geschichte höchstens wie ein kurzer Funken eines großen Feuerwerks erscheinen, dass die fossile Industriemoderne mithilfe von Kohle, Öl und Gas entfacht hat, und das vermutlich nur noch von überschaubarer Dauer sein wird, bevor ihm die geistigen wie natürlichen Ressourcen ausgehen und es wieder erlischt. Insofern tut gut daran, wer Wirtschaftswachstum nicht länger als conditio sine qua non für Gerechtigkeit begreift, sondern nach Gestaltungsoptionen für die Politik jenseits von Konjunkturpolitik sucht.

Unfaires Wachstum

Das bisherige Wirtschaftswachstum hat die Tragefähigkeit unseres Planeten nicht nur an ihre Leistungsgrenze gebracht, sondern diese bereits längst überschritten. Der ‚ökologische Fußabdruck’ der menschlichen Zivilisation, sprich: die Summe des in Fläche umgerechneten Verbrauchs von Ressourcen, Energie und Fläche sowie des Mülls und der Emissionen übersteigt die Biokapazität der Erde mittlerweile um das 1,5fache.[3] Nachrichten von der Überfischung der Meere, der Erosion fruchtbarer Böden, dem Vollpumpen der Atmosphäre mit klimaschädlichen Treibhausgasen – dies alles sind Symptome eines Wirtschaftswachstums, das bereits zu weit gegangen ist.

Dabei greift zu kurz wer meint, an der Überforderung der planetarischen Regenerationsfähigkeit würde nur unsere ‚Umwelt’ leiden. Tatsächlich leidet die Mitwelt. Besonders ärmere Menschen im globalen Süden wie Norden, die zur Sicherung ihres Lebensunterhalts auf die Funktionsfähigkeit der Natur angewiesen sind, bekommen die ökologischen Folgen weiteren Wachstums zu spüren. Sei es, dass fossil getriebenes Wachstum in den Schwellenländern den Klimawandel weiter anheizt, der zu Wetterextremen mit Ernteeinbußen für die gut 1,5 Milliarden Kleinbauern auf der Erde beiträgt, die direkt von der Landwirtschaft leben; sei es, dass der Schwenk der Industrieländer Richtung Agrartreibstoffe, um den Klimawandel zu dämpfen, zu einem Verlust von Anbauflächen für den Lebensunterhalt ebenfalls dieser Kleinbauern führt, weil auf ihrem Land nun Energiefrüchte für den Export angebaut werden. Auf einem Planeten, der bereits über die Maßen beansprucht wird, gleicht weiteres Wachstum einem Nullsummenspiel: was die einen als Gewinnsteigerung verzeichnen, erleiden die anderen als Schadensmehrung.[4]

Im Fall von Deutschlands Wirtschaftswachstum gibt es ein weiteres Argument, warum Wachstum nicht gerechtigkeitsfähig ist. Seit Jahrzehnten schon wird die deutsche Wirtschaft in hohem Maße durch florierende Exporte angefeuert, und jedes Jahr exportiert Deutschland mehr, als es importiert. Jeder Arbeitsplatz, der in Deutschland am Exportüberschuss hängt, bedeutet in den Zielländern der Exporte einen Arbeitsplatz weniger. Was hierzulande produziert und dann verschifft wird, könnte ja auch dort zu Arbeitsplatzangeboten und Wertschöpfung führen. Mit seinem exportgetriebenen Wirtschaftswachstum hat sich Deutschland jahrelang am Ausland bereichert.

Schlimmer noch, gefährdet Deutschlands exportgetriebenes Wachstum zudem die weltwirtschaftliche Stabilität. Denn was bei uns als Exportüberschuss gefeiert wird, kann sich bei unseren Partnerländern als Defizit in der Handelsbilanz niederschlagen. Griechenland, Spanien und andere EU-Länder, die jetzt von der Krise bedroht werden, verzeichnen gegenüber Deutschland eine negative Handelsbilanz. Auch viele der ärmsten Länder auf der Welt haben mit Handelsbilanzdefiziten zu kämpfen, können lebenswichtige Importe wie Medikamente oder Treibstoffe nicht mehr bezahlen, weil ihnen die Devisen fehlen. Insgesamt hat die politische Strategie, deutsches Wirtschaftswachstum durch Exportsteigerungen anzufeuern, zu einer unfairen Umverteilung von Wohlstand aus ärmeren Ländern nach Deutschland geführt.

Mythos Entkoppelung

Ein Weiter-Wie-Bisher-Wachstum ist weder mit Ökologie noch mit Gerechtigkeit vereinbar. Doch welche Lehren gilt es nun zu ziehen? Denn leider gilt auch: eine Stagnation oder gar Schrumpfung der Wirtschaft führt jedenfalls im gegenwärtigen, auf Wachstum ausgelegten System zu Problemen – von steigender Arbeitslosigkeit bis hin zu ausbleibenden Staatseinnahmen für Kranken-, Pflege- und Rentenversicherungen. Wirtschaftswachstum ist nicht nachhaltig, Wirtschaftsschrumpfung ist nicht stabil, lässt sich das Dilemma auf den Punkt bringen. Derzeit ist viel von „qualitativen Wachstum“ oder auch „sozialem Wachstum“ oder „green growth“ die Rede – Strategien, um letztlich an einem weiteren Anwachsen des Volkseinkommens und den bestehenden ökonomischen Rahmenbedingungen festhalten und zugleich Umweltschutz und Gerechtigkeit ins Werk setzen zu können.

Das wichtigste Argument, mit dem soziales oder grünes Wachstum gerechtigkeits- und ökologieverträglich gestaltet werden soll, lautet Entkoppelung. Hinter der Entkoppelung steckt die Idee, dass ein weiteres Wachstum an Volkseinkommen möglich ist, wenn zugleich die sozialen und ökologischen Schäden zurückgehen. In der Sprache der Ökonomie heißt das: das Bruttoinlandsprodukt steigt weiter an, der Ressourcenverbrauch und auch die soziale Ungleichheit nehmen ab. Und sicher, ein Wachstum an Solarzellen auf dem Dach, ein Wachstum an Aufträgen für das lokale Handwerk und den Mittelstand, ein Wachstum an Sozialleistungen, das erscheint zunächst sinnvoll und verlockend – und auch ökologie- und gerechtigkeitsverträglich.

Doch stellt sich bei genauerem Hinsehen die Hypothese von der Entkoppelung als bloßer Wunsch heraus, der weder theoretisch plausibel ist noch in der Vergangenheit jemals funktioniert hätte. Bisher gilt: wo immer Menschen aufgrund von Lohnsteigerungen nominale oder aufgrund von Energieeffizienzmaßnahmen reale Einkommenszuwächse verzeichnen, stecken sie dieses in erhöhte Konsumausgaben oder tragen das Geld zur Bank, die es wiederum investiert.[5] Warum sonst hat sich in den Industrieländern die Energieeffizienz zwischen 1970 und 1991 zwar um stolze 30% verbessert hatte, während im gleichen Zeitraum aber der Energieverbrauch um weitere 20% anwuchs?[6] Es ist eine Milch-Mädchen-Rechnung zu glauben, ein weiteres Wachstum an Geldeinkommen würde dazu führen, dass der Konsum und folglich auch die Emissionen und der Ressourcenverbrauch zurückgehen. Das Gegenteil wird der Fall sein: ein Mehr an Volkseinkommen zieht ein mehr an Konsum nach sich.

Um dies zu verhindern, müsste sicher gestellt werden, dass jegliche Zuwächse des Bruttoinlandsprodukts auf Investitionen in Umweltschutzmaßnahmen bzw. den Umbau von Energie- und Infrastruktursystemen zurückgehen und sich weder in nominal noch real höheren Lohneinkommen oder Unternehmensprofiten niederschlagen. Dies jedoch scheint eine grundfeste Änderung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu erfordern und wird nicht mit einigen Subventionen hier oder einem moderaten Anstieg der Ökosteuern dort erzielt werden können.

Transformation zu einer wachstumsbefriedeten Gesellschaft

Kenneth Boulding hat uns den schönen Satz hinterlassen: „Jeder, der glaubt, exponentielles Wachstum in einer endlichen Welt könne für immer weiter gehen, ist entweder ein Verrückter, oder ein Ökonom.“ Es ist nicht nur phantasielos, sondern nachgerade gefährlich, dass viele Experten unserer Zeit – ob Wirtschaftsweise, Unternehmenschefs, oder Politiker in Bundestag und Ministerien – Wirtschaftswachstum im bestehenden System nach wie vor für wünschenswert erachten. Und dass es in der wissenschaftlichen Zunft der Ökonomen bisher kaum alternative Theorien gibt, wie eine Wirtschaft ohne Wachstum gestaltet werden kann. Denn natürlich braucht es weiterhin Umverteilung, um Arbeitslosigkeit und Armut zu bekämpfen, wie auch eine groß angelegte Investitionsoffensive in Windparks, Photovoltaik und öffentliche Verkehrsmittel, um den Übergang in eine gerechtigkeitsfähige Zukunft zu schaffen. Aber wer die Grenzen unseres Planeten wirklich anerkennt, der wird einräumen, dass dies – jedenfalls in den Industrieländern – ohne weiteres Wachstum gelingen muss.

Deswegen ist die Herausforderung der „großen Transformation“, die die heutigen nicht-nachhaltigen Produktions- und Lebensweisen in nachhaltigere Bahnen lenken möchte, auch so viel größer, als sprichwörtlich Solarzellen auf Dächer zu schrauben. Was in den nächsten Jahrzehnten erfolgen muss, ist beileibe nicht nur eine technische Revolution, sondern auch eine kulturelle, politische und institutionelle Evolution. Die – unter anderem – dazu führt, dass die Warenströme der deutschen Wirtschaft in Teilen deglobalisiert werden; dass die Politik sinkende Obergrenzen für den Netto-Energieverbrauch der Gesellschaft setzt; dass Menschen stetige materielle Wachstumswünsche aufgeben und lernen, Zufriedenheit und Wohlstand wieder aus einem Weniger und nicht aus einem Immer-Mehr zu ziehen.

Viele Fragen, wie dies ins Werk gesetzt werden kann, sind heute noch offen. Für sie müssen Antworten gefunden werden, die sich einer kurzfristigen Politik entziehen. Fast vierzig Jahre nach ihrer Entstehung hat die Umweltbewegung nach wie vor weit größere Aufgaben vor sich, als das Waldsterben anzuprangern und die Flüsse von Schadstoffen zu befreien: die Rahmenbedingungen für eine neue Ökonomie und Lebensweise zu denken, kleinteilig zu praktizieren, und – mit ähnlich viel Geduld und Chuzpe, wie es vier Jahrzehnte Arbeit an der Energie- oder Agrarwende erfordert haben – auf die große politische Agenda zu hieven.


[1] Max Weber (1920): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Tübingen.

[2] DIW (2008): Schrumpfende Mittelschicht – Anzeichen einer dauerhaften Polarisierung der verfügbaren Einkommen? DIW-Wochenbericht Nr. 10, 75. Jg. Berlin.

[3] WWF (2010): Living Planet Report. Biodiversität, Biokapazität und Entwicklung. Berlin.

[4] Wuppertal Institut (2005): Fair Future. Begrenzte Ressourcen und globale Gerechtigkeit. München.

[5] Zu dem auch „Rebound-Effekt“ genannten Phänomen und dem Mythos Entkoppelung, siehe etwa Jackson, Tim (2011): Wachstum ohne Wohlstand. Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt. München.

[6] Holm, Stig-Oluf/ Englund, Göran (2009): Increased ecoefficiency and gross rebound effect: Evidence from USA and six European countries 1960-2002. In: Ecological Economics No. 68, Iss. 3, S. 879–887.