Fair Future oder Investment in Development? Zwei Ansätze für mehr Gerechtigkeit in der Welt im Vergleich.
Von Tilman Santarius
Erschienen als: Santarius, Tilman: Kann es eine Fair Future durch Investment in Development geben? In: Zeitschrift für Sozialökonomie Nr. 150, Jg 43, 2006, S. 36-39.
Im letzten Jahr wurden sie fünf Jahre alt und es galt, Geburtstag zu feiern. Zur Jahrtausendwende hatten 191 Staaten der Vereinten Nationen im Konsens die „Millennium Development Goals“ ausgerufen, um gemeinsam für mehr Gerechtigkeit und Wohlstand auf der Erde zu sorgen. Neben Verbesserungen u.a. im Gesundheitswesen, bei der Geschlechtergerechtigkeit oder der Nachhaltigkeit steht die Halbierung der Zahl der weltweit Armen bis zum Jahr 2015 an der Spitze der acht Ziele der Millennium Development Goals. Im Herbst 2005 war das erste Drittel bis 2015 abgelaufen und es galt, zurückzuschauen und zu evaluieren, was bereits bei der Umsetzung der Ziele erreicht wurde.
Da die Staatengemeinschaft zunächst nur die Ziele formuliert und konkrete Maßnahmen außer Acht gelassen hatte, sollte das Millenniums-Projekt der Vereinten Nationen, gleich nach dem Gipfel angestoßen, dabei eine zentrale Rolle spielen. Pünktlich zur „Millennium plus 5“-Konferenz lag der Bericht des dreijährigen Projekts vor, welcher den Ländern einen praktischen Plan zur Umsetzung der Millenniumsziele, insbesondere der Armutsreduktion, an die Hand geben möchte. Gleichfalls kam ein Report des Wuppertal Instituts heraus, der ebenso für größere Gerechtigkeit in der globalisierten Welt plädiert, aber einen deutlich anderen Ansatz verfolgt.
Auf die Frage, wie mehr Gerechtigkeit und weniger Armut praktisch zu erreichen sei, gibt der Bericht des Millennium-Projekts eine eindeutige Antwort: „Langfristige Armutsreduktion verlangt anhaltendes Wirtschaftswachstum, welches von technologischem Fortschritt und Kapitalakkumulation abhängt.“ Die differenzierten Vorschläge für Politiken und Maßnahmen zur Verbesserung der ökonomischen Situation der Armen heben folgerichtig auf eine Ausweitung der Investitionstätigkeit ab, seien es öffentliche oder privatwirtschaftliche Investitionen. Für die reichen Länder sei es die wichtigste Aufgabe, finanzielle Ressourcen bereitzustellen.
So durchdacht die Vorschläge im Einzelnen sein mögen, so problematisch erscheint der Tenor des Reports für die Geschicke des Planeten. Denn Armutsreduktion und Gerechtigkeit an Wirtschaftswachstum und Investitionstätigkeit zu koppeln macht seit dem zweiten Weltkrieg den konzeptionellen Eckstein aller nachholenden Entwicklungspolitik aus. Doch spätestens seit den „Grenzen des Wachstums“ (1972) sind bio-physische Grenzen des herkömmlichen Wachstums beim Kampf um mehr Gerechtigkeit und weniger Armut nicht mehr wegzudenken. Es kann nicht mehr ausgeschlossen werden, dass Wachstum eher einem Nullsummenspiel gleicht. Denn vor allem für jenes Drittel der Menschheit, das unmittelbar von den sie umgebenden Ressourcen und Ökosystemen lebt, zeichnet sich ab, wie mit ökonomischer Wertschöpfung gleichzeitig ökologische Misswertschöpfung einhergeht. Wertschöpfung speist sich gerade für sie zu einem nicht geringen Teil aus der unentgeltlichen Nutzung der Natur; deshalb beginnt jenseits einer nahen oder schon erreichten Schwelle mit wachsendem Technik- und Geld-Kapital das Naturkapital zu schrumpfen.
Gewiss, monetäres Wachstum ist nicht in einer unveränderlichen Relation an stoffliches Wachstum gebunden. Das gleiche Bruttosozialprodukt kann unterschiedliche Grade an Umweltbelastung verursachen. Doch an der Gesamttendenz kann kaum ein Zweifel bestehen: Mit der monetären Größe der Wirtschaft nimmt auch ihre stoffliche Größe zu, jedenfalls bis zum Übergang in eine post-industrielle Phase. So lange das Verlangen nach Gerechtigkeit an herkömmliches Wachstum gekoppelt bleibt, droht es daher mit der Stabilität der Biosphäre zu kollidieren.
Genau darin liegt das Dilemma, wenn Armutsreduktion durch Investitionen in herkömmliches Wirtschaftswachstum erzielt werden soll – auch wenn dies insbesondere die aufholenden Länder Asiens in den letzten Jahren scheinbar erfolgreich vorgemacht haben. Es mag umstritten sein, ob die Wachstumssprünge in China und Indien international ein Mehr an sozialem Ausgleich und national ein Weniger an (Geld-) Armut bringen, doch es ist sicher, dass sie den Verschleiß der Biosphäre vorantreiben und damit bestimmten Bevölkerungsgruppen mehr schaden als nützen. China etwa ist, in absoluten Zahlen, mittlerweile zum zweitgrößten Emittenten von Kohlendioxid in der Welt nach den USA wie auch zum zweitgrößten Ölimporteur aufgestiegen. Und während das Wirtschaftswachstum der letzten Dekade von rund 10% sich vielen Lobs erfreute, lagen die ökologischen Schäden in China mit rund 13% des Bruttoinlandprodukts sogar noch darüber! Das macht sich neben der Belastung globaler Ressourcensysteme auch im Druck auf lokale Lebensräume bemerkbar: Luftkranke Städte, schrumpfende Ackerflächen oder schwindende Wasserbestände sind das Wetterleuchten einer heranziehenden Naturkrise. Zwar winkt zunächst mehr Einkommen, in Wirklichkeit aber doch nur ein größerer Anteil an der Raubökonomie, meist zum Nachsehen der Ärmsten. Anstatt Investitionen in nachholende Entwicklung zu initiieren ist es daher gerade für eine Strategie der Armutsminderung hohe Zeit, das Wohlstandsmodell der Industriemoderne auf den Prüfstand zu stellen und alternative Entwicklungswege zu suchen. Dazu trägt das Millennium-Projekt wenig bei.
Die Globalisierung bedeutet dabei nicht nur wegen des verschärften internationalen Standortwettbewerbs und dessen Sachzwängen für eine nationale Politik der Armutsreduktion eine Herausforderung, sondern auch wegen ihrer kulturellen Auswirkungen. Durch die rasante Verbreitung von Bildern, Werten und Symbolen bis in die Wohnzimmer auch der Ärmsten wird der Auszug aus Armut und „Unterentwicklung“ aller Orten mehr denn je als Einstieg in die Produktions- und Konsummuster nach dem Vorbild des Nordens und Westens imaginiert. Doch diese Muster sind strukturell nicht gerechtigkeitsfähig, denn sowohl die übermäßige Aneignung der Ressourcen als auch die hohen pro-Kopf-Emissionen lassen sich nicht vom Gros der Weltbevölkerung nachahmen, ohne an die Grenzen der Biosphäre zu stoßen. Wer weiterhin auf ressourcenintensive und fossil basierte Konsum- und Produktionsstile setzt, plädiert implizit für eine globale Apartheid: während sich eine Minderheit auf Kosten der Mehrheit bereichert, bleibt die Mehrheit vom Wohlstand ausgeschlossen. Gerechtigkeitsfähig sind dagegen Produktions- und Konsumstile, die sich demokratisieren lassen und die die Mehrheit der Weltbürger/innen in Arbeit und Brot bringen, ohne den Planeten zu ruinieren.
Eine Strategie zur Armutsminderung nach dieser Sicht setzt weniger darauf, die Mittellosen möglichst schnell auf das Niveau der Reichen hochzupäppeln, sondern sie erfordert zweierlei: einerseits einen Rückbau des Hochverbrauchs im Norden und in den Wohlstandsinseln des Südens, andererseits eine intelligente Entwicklung im Süden, die mit wenig Ressourcenverzehr auskommt. Der Rückbau des Hochverbrauchs im Norden wurde in den letzten Jahrzehnten auf vielen Feldern bereits minutiös konzipiert und eine Vielzahl wirksamer Technologien, kluger Organisationsformen und qualitätsbewusster Lebensstile wurde entwickelt, um aufzuzeigen und zu praktizieren, wie Wohlstand sich von Ressourcenverbrauch entkoppeln lässt. Für den Süden allerdings stellt sich nach wie vor die Frage: wie kann mehr Wohlstand und weniger Armut erreicht werden, ohne die überkommene, fossile Industriestruktur des Westens zu imitieren?
Der Report „Fair Future“ des Wuppertal-Instituts stellt dazu das Konzept des „Leapfrogging“ vor: Leapfrogging bedeutet, dass Länder mit derzeit noch geringer Abhängigkeit von hohem und fossilem Ressourcendurchsatz nicht die Fehler der Industriegesellschaften wiederholen, sondern dass sie gleich – mit dem weiten Satz eines Springfroschs – in eine solar basierte Wirtschaftsstruktur mit ressourcenleichten Produktions- und Konsummustern einsteigen. Erkennen sie die Endlichkeit der Biosphäre an, dann bietet sich für die Länder des Südens wie vielleicht nie zuvor in der Geschichte die Chance, die Industrieländer zu überholen: weil der Ressourcenhunger den Norden in der Falle hält, können die Länder des Südens die Führung übernehmen und bei Nachhaltigkeitsmustern landen, welche die reichen Länder noch gar nicht erreicht haben. So wird das Modell der nachholenden Entwicklung durch Wege der nachhaltigen Entwicklung ersetzt.
In einer weiteren Hinsicht unterscheidet sich Fair Future konzeptionell vom Ansatz des Millennium-Projekts. Letzteres geht davon aus, dass Armut vor allem von einem Defizit an Geld herrührt, während Fair Future eher den Mangel an Macht als Ursache sieht. Denn sehr oft geht erniedrigende Armut auf eine Verweigerung von Existenzrechten zurück. Existenzrechte umfassen, was Personen unabdingbar zu ihrer Entfaltung als Lebewesen brauchen: gesunde Luft und genießbares Wasser, Bekleidung, Nahrung und Wohnung – und ebenso soziale Teilnahme und Handlungsfreiheit. Zur Sicherung der Existenzrechte kommt den Naturräumen ein hoher Stellenwert zu, denn als Wirtschaftsraum stellen sie wesentliche Ressourcen zur Selbstversorgung wie auch zur marktgängigen Produktion bereit, und überdies vermitteln sie als Kulturräume oft die Verbindung der ansässigen Gemeinschaft zu ihren Vorvätern wie auch zur Transzendenz ihrer Götterwelt. Schwerwiegende Eingriffe in Naturräume sind daher zu allererst Ursachen für Armut und Verelendung – nicht nur in ökologischer und wirtschaftlicher, sondern gleichzeitig auch in sozialer Hinsicht; sie bedrohen die Lebensgrundlagen lokaler Gemeinschaften. In dieser Perspektive setzt eine Strategie der Armutsreduktion eher auf eine Ausweitung der Macht von Mittellosen beim Zugriff auf und die Verwaltung von ihren Natur- und Wirtschaftsräumen, als auf vorübergehende das Bereitstellen von (Finanz-) Mitteln.
Während das UN-Millennium-Projekt implizit davon ausgeht, die globalen politischen Rahmenbedingungen stellten die Referenzsituation für Armutsminderung dar, sieht Fair Future daher vor allem bei Institutionen, die fortwährend Ungerechtigkeit und Unterdrückung zeitigen, den Ansatzpunkt für Veränderungen. Die Kernfrage lautet dann: wie können (internationale) Institutionen in die Pflicht genommen werden, den Zugang zu Naturressourcen und Sozialkapital so zu gestalten, dass für alle Weltbürger/innen die elementarsten Existenzrechte gesichert sind? Nicht nur beim Rückbau der Ansprüche der Ressourcenhochverbraucher, sondern auch bei der Gewährleistung der Existenzrechte kommt den Mächtigen gegenüber den Machtlosen dabei eine zentrale Rolle zu: Sie müssen internationale Institutionen so mitgestalten, dass sie den Freiheitsraum der Machtlosen nicht mehr zugunsten der Mächtigen einschränken, und dass sie aktiv einen Beitrag zur Umsetzung der Existenzrechte leisten.
Der zwischenstaatliche Handel mit Agrarprodukten, weitgehend durch die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) geprägt, ist ein deutliches Beispiel für den Zusammenhang zwischen zunehmendem Machtverlust mit der Folge von Verelendung und Verarmung. In den Ländern des Südens ist der Anbau von Nahrungsmitteln zugleich unersetzliches Lebensmittel und eine wichtige Einnahmequelle für die Mehrheit der Menschen. Denn dort sind im Schnitt 56 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, in einigen Ländern wie Burkina Faso oder Ruanda sogar über 90 Prozent. Ein Eingriff in die Nahrungsmittelproduktion und -versorgung kann deshalb einen schweren Eingriff in die Lebensgrundlagen vieler Menschen bedeuten. Dennoch werden im Agrarabkommen der WTO Nahrungsmittel und Agrargüter wie jede andere Ware behandelt. Das Abkommen regelt ihren Import und Export, ganz besonders im Hinblick auf den Austausch zwischen Norden und Süden. Was die Ernährungssicherheit anlangt, ist dabei zum einen der Export wichtig: Sowohl zu wenig wie auch zu viel Export kann für manche Bevölkerungsgruppen existenzgefährdend sein: Ist der Zugang zu nördlichen Märkten für Exporte aus dem Süden blockiert, kommen nicht genug Geldmittel ins Land für eine Umverteilungspolitik. Expandiert jedoch der Exportanteil der Landwirtschaft allzu sehr, müssen die Erzeugung von Nahrungsmitteln für die eigene Bevölkerung und die Kleinbauern dran glauben. Zum anderen sind auch die Schwankungen auf der Importseite von Bedeutung: Zu wenig preiswerte Importmöglichkeiten können eine Nahrungskrise verschärfen, aber auch zu viele Einfuhren können vom Preis und Volumen her die Ernährungssicherheit in Mitleidenschaft ziehen. Im Gefolge von Marktöffnungen wurden viele südliche Märkte nämlich zunehmend von Produkten aus dem Norden überschwemmt – noch dazu mit Preisen, die durch Subventionen verbilligt wurden. Als Folge wurden hunderttausende Kleinbauern aus der Produktion und in die Migration und Verelendung gedrängt.
Eine Strategie der Armutsverminderung kommt daher nicht umhin, die internationalen Handelsregeln zu adressieren; eine wirksame Armutsminderung erfordert eben nicht nur ausgefeilte Vorschläge für Maßnahmen auf der Mikroebene, sondern auch Weichenstellungen auf der Makroebene, in der internationalen Politik. Der Bericht des Millennium-Projekts plädiert lediglich dafür, die gegenwärtige Verhandlungsrunde der WTO möglichst rasch zum Ende zu bringen. Doch diese Forderung reicht nicht aus. Stattdessen plädiert Fair Future dafür, den betroffenen Ländern Maßnahmen an die Hand zu geben, um ihre Kleinbäuerinnen vor einem Preisverfall und der Verdrängung aus der Produktion durch Importe zu schützen. Und um ihre Eigenversorgungs-, Regional- und Gemeinwirtschaften zu begünstigen, müsste die WTO so umgestaltet werden, dass Länder sektoral und für jede Produktionssparte individuell entscheiden können, ob ihnen eine Marktöffnung zum Vorteil gereicht oder nicht.
Als die Staatengemeinschaft also zur Geburtstagsfeier der Millennium Development Goals zusammenkam, war und bleibt darüber hinaus zu hoffen, dass sie nicht nur über Maßnahmen für die Armen und eine Ausweitung der so genannten Entwicklungshilfe berät, sondern auch über korrespondierende Maßnahmen für jene, die bisher aus der sozialen Polarisierung auf dem Globus profitieren. Denn gegenwärtig sind sowohl die großen Investitionsentscheidungen wie die internationalen Politikverhandlungen davon geprägt, in der Auseinandersetzung mit Konkurrenten bloß den eigenen Vorteil zu maximieren – ohne Rücksichten auf die Kosten für die am wenigsten Begünstigten, die gewöhnlich auch gar nicht am Tisch der Entscheidungen sitzen. Ein Appell, internationale Abkommen gegenüber den Menschen- und Existenzrechten rechenschaftspflichtig zu machen, darf einer möglichen Ausweitung der Entwicklungshilfe daher nicht nachstehen. Denn sieht man die Armutsreduktion nicht nur als Wirtschaftshilfe, sondern vielmehr als Schadensvermeidung und Chanceneröffnung, wird man als das Feld für die Überwindung der Ungerechtigkeit nicht die Peripherie, sondern die Zentren wählen. Was lohnt es, den Splitter aus dem Auge der Armen zu entfernen, solange der Balken im Auge der Reichen verbleibt?