Nie wieder Exportweltmeister
Von Tilman Santarius
Erschienen als: Santarius, Tilman: Nie wieder Exportweltmeister. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 7, 2009, S. 9-12.
„Exportweltmeister“ – jahrelang war dieser Begriff Ausdruck deutschen Selbstbewusstseins. Mehr als ein Dutzend Mal konnte die Bundesrepublik den Titel für sich verbuchen, und seit über drei Jahrzehnten hat sie einen festen Platz unter den Top-Exporteuren der Welt. Dass Deutschland sogar die Supermacht USA im Warenhandel überholen konnte, erschien als unbestreitbares Zeugnis ökonomischer Potenz. Jedes Mal, wenn die Handels-Goldmedaille ins Haus stand, brachen Unternehmer, Politiker, Ökonomen und Arbeitnehmer in kollektiven Jubel aus. Der Anspruch, Exportweltmeister zu werden, wurde beinahe zum identitätsstiftenden Ziel der Nation.
Doch nun wird das Land von einer jähen Enttäuschung heimgesucht. Um 20 Prozent brachen die Exporte im Frühjahr 2009 gegenüber dem Vorjahr ein. Und weil fast die Hälfte des deutschen Bruttoinlandsprodukts aus dem Verkauf von Waren im Ausland geschöpft wird, zieht der Einbruch einen steilen Absturz auch der nationalen Konjunktur nach sich. Scheinbar über Nacht ist die pole position zum Problem geworden. Denn die Ersten bei den Exporten trifft es nun am härtesten. Tatsächlich ist Deutschlands Abhängigkeit vom Weltmarkt gerade auch während der letzten zehn Jahre dramatisch gewachsen; allein zwischen 1999 und 2006 wuchs die Warenausfuhr erneut um sagenhafte 75 Prozent. Das allerdings wirft nun, in Zeiten der Krise, erhebliche Fragen auf.
Die Destabilisierung der Weltwirtschaft
Auch wenn in Deutschland die Zahl der Erwerbstätigen im produzierenden Gewerbe zwischen 1991 und 2005 um 32 Prozent und damit stärker als in jedem anderen Land der Welt abnahm, brachte der durch die Exportorientierung forcierte Strukturwandel dem Land vor allem Vorteile. Durch die Steigerung der Exporte konnten Arbeitsplätze geschaffen, Unternehmensgewinne optimiert und insgesamt das viel beschworene Wirtschaftswachstum gehalten und weiter vorangetrieben werden. In der Summe führte die Globalisierung nicht zur Abwanderung der Arbeit, sondern eindeutig zu einem zusätzlichen Arbeitsplatzangebot – auch wenn für gering qualifizierte Arbeitskräfte immer weniger Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Nach Schätzungen hat die Zahl der direkt und indirekt für den Export arbeiteten Erwerbstätigen insgesamt um 2,4 Mio. zugenommen.
Im Gegenzug aber bedeutet das nichts anderes, als dass Deutschland im Ausland die Arbeitslosigkeit vorantreibt. Viele der Arbeitsplätze, die hier am Export hängen, könnten auch zu einem dortigen Arbeitsplatzangebot führen. Beim erbitterten Kampf um die zukünftigen Anteile an der globalen Autoproduktion ist dies gegenwärtig hautnah zu erleben.
Kurzum: Deutschland hat sich mit seinem jahrelangen Exportboom konsequent am Ausland bereichert. Und weil sich der Saldo aus Im- und Exporten in Deutschland stetig vergrößerte, ging die Exportorientierung letztlich zu Lasten der weltwirtschaftlichen Stabilität. Als Kehrseite des deutschen Exportüberschusses haben viele Länder seit langem mit negativen Handelsbilanzen zu kämpfen. Während Länder, die langfristig mehr exportieren als importieren, Überschüsse an ausländischen Devisen erwirtschaften – China etwa hat einen Devisenüberschuss von deutlich über 1.000 Mrd. US-Dollar angehäuft -, geraten jene Staaten, die stets mehr importieren als exportieren, leicht in einen Devisenmangel. Vor allem die ärmeren und ärmsten Länder haben mit chronisch negativen Handelsbilanzen zu kämpfen; so dass sie teilweise nicht einmal lebenswichtige Medikamente oder Nahrungsmittel importieren können.
Die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise und speziell ihre Folgen für die USA lehren uns nun allerdings, dass auch ökonomisch vitale Länder nicht vor Destabilisierung gefeit sind. Wie bereits die Krisen in Mexiko (1994), Asien (1997/1998) und Argentinien (1999) hat auch die gegenwärtige Krise ihre Ursache zum guten Teil in einem Ungleichgewicht der Handelsbilanzen. Jede handelspolitische Strategie, die ein chronisches Handelsungleichgewicht in Kauf nimmt, stellt letztlich ein Sicherheitsrisiko für die Weltwirtschaft dar.
Polarisierung der Einkommen
Hinzu kommt, dass für Deutschland die Exportsteigerung zwar insgesamt zu ökonomischen Gewinnen führte; die Verteilung dieser Gewinne im Inland war jedoch alles andere als fair. So berechnete das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, dass das durchschnittliche Realeinkommen zwischen 1990 und 1998 in etwa konstant geblieben, dann bis 2002 leicht gestiegen, seitdem aber kontinuierlich gesunken ist.
Noch wichtiger ist der Blick hinter den Durchschnitt: Der Anteil der Empfänger mittlerer Einkommen ist während der ganzen Zeit deutlich geschrumpft, während die Bevölkerungsanteile an den Rändern der Einkommensverteilung – sowohl bei den Vielverdienern wie bei den Niedriglohnempfängern – gestiegen sind. Trotz steigender Exporte hat sich ein guter Teil der Deutschen finanziell also verschlechtert, und die Einkommensschere geht insgesamt auseinander.
Dafür verantwortlich ist auch eine Politik, die genau diese Umverteilung in Kauf nahm oder gar anstrebte und Unternehmensgewinnen Vorrang vor der sozialen Sicherung der Bevölkerung einräumte. Die Bundesregierung hat es versäumt, die Exportgewinne in einer Weise umzuverteilen, dass Vielverdiener von ihren Einkünften an die anderen Einkommensklassen abgeben müssen und auf diese Weise das „Sterben der Mittelschicht“ verhindern. Im Gegenteil: Zusätzlich zur Marktöffnung wurden Arbeitszeiten, Löhne und Mitbestimmungsrechte ‚flexibilisiert’, so dass Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen heute zunehmend ungeschützt dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind.
Ökologische Lasten
Auch aus umweltpolitischer Sicht ist die starke Exportorientierung problematisch. Mehr als ein Drittel der deutschen Exporte stammt aus den Sektoren Chemie und Automobil. Schon für sich genommen sind Absatzsteigerungen im Automobilsektor klimapolitisch bedenklich, aufgrund der hohen Treibhausgasintensität in der Produktion und im Konsum. Im Fall deutscher Autos sind sie es besonders. Denn der durchschnittliche Flottenverbrauch der deutschen Firmen liegt deutlich über dem Verbrauch der italienischen, französischen und auch japanischen Hersteller. Zudem haben die deutschen Autobauer ihre Exporte nicht bei ihren sparsamen und leichten Modellen gesteigert, sondern vor allem im so genannten Premiumbereich – bei Luxusschlitten, Sportwagen und Sports Utility Vehicles. So rüstet die deutsche Automobilindustrie die Welt mit Modellen auf, die die internationalen Anstrengungen zum Klimaschutz konterkarieren.
Die Bundesregierung hat sich offiziell zu dem Ziel bekannt, die globale Erwärmung unter der gefährlichen Schwelle von 2 Grad Celsius zu halten. Dafür müssen bis 2050 gegenüber dem Niveau von 1990 rund 80 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen vermieden werden. Für dieses überaus ambitionierte Ziel muss sich Deutschland auch der Frage stellen: Wie viel Welthandel, wie viel internationale Arbeitsteilung können wir uns in der Zukunft noch leisten? Aufgrund der extremen Weltmarktorientierung verursacht der Transport deutscher Im- und Exporte rund um den Globus bereits heute mit 62 Mio. Tonnen CO2 mehr Treibhausgase als der Transport aller Waren innerhalb Deutschlands (56 Mio. Tonnen CO2). Mit solchen Zahlen wird die Reduktion der Emissionen um 80 Prozent nicht zu erreichen sein. Das kann nur mit einer Strategie gelingen, welche eine von der Sache her nicht erforderliche Globalisierung von Warenströmen und Produktionsketten unrentabel macht.
Reformen – jetzt oder nie
Destabilisierung der Weltwirtschaft, Abbau von Arbeitsplätzen in anderen Ländern, Polarisierung der Einkommen im Inland, klimapolitisch kontraproduktive Folgen – und als wäre dies nicht bereits genug manövrierte die starke Exportorientierung das Land in eine fatale Abhängigkeit vom Weltmarkt. Bereits 2006 betrug der Anteil der Exporte am gesamten Bruttoinlandsprodukt 44 Prozent. Die Risiken liegen auf der Hand: Schon kleinste globale Verwerfungen haben spürbare Auswirkungen auf Unternehmensumsätze, Einkommen und Arbeitsplätze. Und diese sind, jenseits der gegenwärtigen Krise, längst absehbar: Schließlich werden sich, wenn Peak Oil erreicht ist, Energie- und Treibstoffe weiter verteuern und damit die Preise für Fernverkehr und Warenhandel drastisch ansteigen. So führte der Ölpreisanstieg im Jahr 2000 um 60 Prozent bereits zu einem Einbruch der deutschen Exporte um knapp 5 Prozent. Es ist daher gut möglich, dass sich die Epoche der Globalisierung, wie der amerikanische Autor James H. Kunstler jüngst anmerkte, als „der Indian Summer des Öl-Zeitalters“ erweist.
Immerhin beginnt sich langsam und zaghaft eine kritische Debatte über die deutsche Exportorientierung selbst bei jenen zu entwickeln, die bislang den Exportweltmeistertitel stets gefeiert haben. So plädierte Axel Weber, Chef der Deutschen Bundesbank, kürzlich dafür, dass Deutschland einen Strukturwandel bei seiner Exportpolitik vollziehen müsse, um eine ausgeglichene Handelsbilanz zu erzielen. Auch Finanzminister Peer Steinbrück räumte ein, dass wir selbstkritischer über den deutschen Beitrag an den Handelsungleichgewichten auf dem Weltmarkt sprechen müssten.
Auf internationaler Ebene, im Rahmen der G20-Expertenkommisson, wird derweil bereits über einen Wechselkurs-Mechanismus oder gar eine unabhängige Weltwährung diskutiert, die strukturelle Ungleichgewichte in den Handelsbilanzen vermeiden könnte. Deutschland sollte sich mit all seiner politischen und wirtschaftlichen Macht dafür einsetzen und einen guten Teil seiner Handelsströme deglobalisieren. Das wäre ein Beitrag für eine zukunftsfähige Weltgesellschaft, der die richtigen Konsequenzen aus der gegenwärtigen Krise zöge.
In Anbetracht der kurzatmigen Krisenpolitik der Bundesregierung spricht zwar wenig dafür, dass diese Chance tatsächlich ergriffen wird. Dennoch steht eines bereits heute fest: Den Titel Exportweltmeister dürfte die Bundesrepublik 2007 zum letzten Mal errungen haben. Dank seiner schieren ökonomischen Größe und seines anhaltenden Wirtschaftswachstums wird ihn das aufstrebende China bis auf Weiteres wohl für sich verbuchen.