Prinzipien für eine gerechte Rohstoffpolitik
Von Tilman Santarius
Erschienen als: Santarius, Tilman: Gegen Ungerechtigkeit. Prinzipien für eine gerechte Rohstoffpolitik. In: Forum Umwelt & Entwicklung Rundbrief, IV/2010, S. 5-6.
Ungerechtigkeit ist ein Zustand, den jeder kennt, und ein Gefühl, dass niemand mag. Dass die global höchst ungleiche Aneignung von Rohstoffen irgendwie ungerecht ist, empfinden und äußern viele – seien es deutsche Unternehmen, die beklagen, dass ihre Konkurrenten aus China so viel abzockten; seien es manche Regierungen etwa aus Lateinamerika, die lamentieren, dass die Industrieländer den Entwicklungsländern die Rohstoffe regelrecht wegnähmen, seien es NGOs, die kritisieren, dass die globale Konsumentenklasse der marginalisierten Mehrheitswelt die Ressourcen vorenthalten.
Was hingegen eine gerechte Aneignung und Verteilung von Rohstoffen ist und wie sie hergestellt werden kann, hier gehen die Meinungen stark auseinander. ‚Gebt uns unsere Böden wieder!’, fordern Landlose in Brasilien oder Zentralafrika, nachdem sie dem landgrabbing kapitalstarker Investoren zum Opfer gefallen sind. ‚Im Notfall ist auch militärischer Einsatz nötig, um freie Handelswege für Deutschlands Wirtschaft zu sichern’, meinen Horst Köhler und Karl-Theodor zu Guttenberg. So wie Ungerechtigkeit ein höchst subjektives Empfinden ist, so unterschiedlich kann auch die Einschätzung darüber ausfallen, was letztlich gerecht sei, und wie Gerechtigkeit am besten hergestellt werden könne.
Allerdings ist Gerechtigkeit beileibe nicht beliebig. Jedenfalls für die Gerechtigkeit in der Nutzung der begrenzten Rohstoffe des Planeten lassen sich einige Prinzipien nennen, die verallgemeinerbar sind. Im Folgenden führe ich drei Prinzipien aus, die universal gültig erscheinen und sich als Richtschnüre für eine gerechtigkeitsfähige Rohstoffpolitik anbieten.
1. Die Existenzrechte sichern
Jeder Bewohnerin und jedem Bewohner der Erde, so sagt es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, kommt dank seines Menschseins das Recht zu, ein würdiges Leben zu führen, also ein Leben, das physisch sicher ist und die Ausübung des eigenen Willens erlaubt. Gerade für jenes Drittel der Menschen auf der Erde, deren Existenz unmittelbar von der sie umgebenden Natur abhängt, kommt dem aktiven Schutz der natürlichen Ressourcen ein hoher Stellenwert zu. Wie diese jedoch durch eine verfehlte oder fehlende Rohstoffpolitik allzu oft gefährdet werden, zeigt das Beispiel Kinari im indischen Staat Orissa. Hier wird Bauxit im Tagebau gewonnen und vor Ort zu Aluminium verarbeitet. Die dafür notwendige Entwaldung bedingt eine Absenkung des Grundwasserspiegels und trocknet nahegelegene Flüsse und Seen aus, während toxischer Schlamm aus der Aluminiumproduktion die umliegenden Böden unfruchtbar macht. Böden und Wasser sind aber die wichtigsten Lebens-Mittel der ansässigen Bevölkerung, die von der Aluminiumproduktion kaum profitiert. Das Beispiel Kinari zeigt, wie das Interesse an Existenzsicherung mit dem Interesse an Umweltschutz überein fällt –und übrigens auch mit dem Interesse an Armutsbekämpfung – aber leider nicht mit dem Interesse nach billigen Rohstoffen.
Indessen werden Existenzrechte nicht nur im Rahmen lokaler Konflikte beim Rohstoffabbau verletzt, sondern häufig auch durch das leise Wirken von Institutionen wie etwa der internationalen Handelspolitik vorenthalten. Daher reicht es nicht aus, die Einhaltung der Menschen- und Existenzrechte als eine Pflicht von Regierungen gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern zu begreifen. Vielmehr muss von Regierungen die Einhaltung der Menschenrechte auch jenseits der eigenen Landesgrenzen als „extra-territoriale Staatenpflicht“ gelten. Für jede nationale Rohstoffpolitik, die gerecht sein will, gilt demnach, dass sie auch extra-territoriale Pflichten anerkennt und dem selbsterklärten Ziel folgt, die Existenzrechte aller Bürgerinnen und Bürger in den Herkunftsländern der Rohstoffe zu achten und die Existenzgrundlagen wie intakte Ökosysteme nicht zu beeinträchtigen.
2. Den Verbrauch zurückfahren
Aus der Anerkennung elementarer Existenzrechte ergibt sich eine Grundregel für die Verteilungsgerechtigkeit: Rohstoffe sind so zu verteilen, dass die Vielverbraucher nicht die Existenzechte der Armen untergraben. Die Aneignung der Naturschätze auf dem Planeten ist höchst ungleich verteilt: gut 25 Prozent der Weltbevölkerung eignen sich etwa 75 Prozent der Weltressourcen an. Ungleiche Aneignung kann zwar in Maßen gerechtfertigt sein. Doch werden sich Konflikte um das Menschenrecht auf eine intakte Umwelt nur entschärfen lassen, wenn die globale Konsumentenklasse ihre Nachfrage nach Rohstoffen aus der Natur– vor allem nach Rohstoffen jenseits ihrer Grenzen – zurückbaut. Nur eine radikale Dematerialisierung der Produktions- und Konsummuster in den wohlhabenden Ökonomien und den Wohlstandsinseln des globalen Südens wird die Basis für eine verteilungsgerechte Weltgesellschaft schaffen.
Nicht nur die Anerkennung elementarer Existenzrechte, sondern auch die Anerkennung der Freiheit der Anderen erfordert eine Revision der gegenwärtigen Ungleichverteilung von Rohstoffen. Schließlich markiert die Freiheit des einen bekanntlich die Grenze für die Freiheit des anderen. Das gilt auch für den Verbrauch von Rohstoffen, denn der Überkonsum der Vielverbaucher schränkt die Entwicklungsspielräume der Bedürftigen ein. Wenn etwa die EU und die USA zusammen nur rund 2% zur Nickelförderung beitragen, aber über die Hälfte des Nickels weltweit verbrauchen, dann bleibt zu wenig Raum für jene 6 Milliarden Menschen, die für ihre Entwicklung noch an Ressourcenverbrauch zulegen müssen. Aus Kants kategorischem Imperativ lässt sich eine Richtschnur für eine faire Verteilung ableiten: Keine Rohstoffpolitik darf auf Prinzipien gründen, die nicht universalisierbar sind, also dem Grundsatz nach von den Rohstoffpolitiken aller anderen Länder ebenfalls übernommen werden können. Die Überaneignung begrenzten Ressourcen durch wenige starke Länder auf Kosten vieler schwächerer Länder widerspricht diesen Regeln. Deshalb wird der Rückbau des Ressourcenverbrauchs der Reichen zum kategorischen Imperativ jeder gerechtigkeitsfähigen Rohstoffpolitik.
3. Einen fairen Handel garantieren
Was ist ein „fairer Handel“? Ein fairer Handel wird durch die Gleichwertigkeit von Geben und Nehmen ausgezeichnet. Gegenwärtig kann beim Rohstoffhandel zwischen der nördlichen und der südlichen Hemisphäre von Fairness kaum die Rede sein. Während des ganzen 20. Jahrhunderts sind die Rohstoffpreise (ohne Öl) jedes Jahr um ungefähr ein Prozent relativ zu den Industrieprodukten zurückgegangen, seit den frühen 70er Jahren sind die realen Preise um zwei Drittel gefallen. So kommt es, dass Europa Rohstoffe oder billige Güter niedriger Verarbeitungsstufen zum durchschnittlichen Preis von 0,70 Euro pro kg importiert, während es gleichzeitig höherwertige Waren mit einem durchschnittlichen Wert von 2,20 Euro pro kg exportiert (2005). Zwar hat der Preistrend auf den Rohstoff- und Agrarmärkten in den letzten Jahren die Richtung geändert; doch die Preisanstiege müssen noch lange fortdauern, bis sich ein faires Tauschverhältnis zu Industriegüterprodukten und Dienstleistungen einstellt. Die anhaltende Misere der terms of trade vieler Länder zeigt eindrücklich, dass der unfaire Handel anhält.
Was sich im Handel zwischen den Nationen an Strukturen der Ungleichheit herausgebildet hat, spiegelt sich ebenfalls in den Binnenbeziehungen transnationaler Produktionsketten. Bei der Wertschöpfungskette eines T-Shirts etwa – und der aller größte Teil der Textilien auf unseren Märkten kommen aus dem Süden – bleiben nur ein paar Prozent des Endpreises bei den Baumwollproduzenten und knapp 20 Prozent bei den verarbeitenden Textilunternehmen in den dortigen Ländern; der Rest wird durch Dienstleister abgeschöpft, die meistens in den Konsumländern zuhause sind. Die Lösung drängt sich förmlichst auf: Nur durch faire Preise für die Erzeuger und eine gleichzeitige Dematerialisierung der Importe kann Ressourcengerechtigkeit hergestellt werden. Projekte zur Zertifizierung von Handelsketten, das Labelling von Produkten wie es TransFair, Max Havelaar oder FairTrade vormachen, aber auch die (realpolitisch gescheiterten) internationalen Rohstoff-Abkommen der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts bieten Ansätze für lessons-learned, auf denen eine gerechte Rohstoffpolitik aufbauen kann.
Die Weltwirtschaft boom, die Weltbevölkerung wächst, und der Wunsch der meisten Menschen und Länder, die Produktions- und Konsummuster des Westens zu übernehmen – dies stellt die Rohstoffpolitik in einer begrenzten Welt zwangsläufig vor riesige Herausforderungen. Zahlreiche Länder legen sich dieser Tage neue Strategien zu, wie sie in Zukunft den Zustrom an den immer harscher umkämpften Rohstoffen nachhaltig sichern können. Dass dies auch mit mehr Kapital, mehr Marktmacht, mehr politischem „Armdrücken“ oder gar mehr militärischer Präsenz erzielt werden kann, zeigt der Status Quo. Ob dies indessen eine tatsächlich zukunftsfähige Strategie ist, steht auf einem anderen Blatt. Die augenscheinlichen Knappheiten werden jedenfalls nicht vermindert, sondern womöglich noch verschärft.
Eine Rohstoffpolitik hingegen, die durch eine drastische Dematerialisierung der Produktion den Bedarf an Rohstoffen senkt, beim verbleibenden Rohstoffhandel die Existenzrechte Betroffener bei der Extraktion sichert und zugleich einen fairen Handel mit den Partnerländern garantiert, wäre eine Alternative, die nicht nur Wohlstand für mehr Menschen sichern kann, sondern auch Frieden stiftet, indem sie die Welt vor weiteren kleineren Ressourcenkonflikten und größeren Ressourcenkriegen bewahrt.