Mentale Infrastrukturen. Wachstum als Wille und Vorstellung.
Veröffentlicht in: Giesecke, Dana/ Soeffner, Hans-Georg/ Wiegandt, Klaus: Welzers Welt. Störungen im Betriebsablauf. Frankfurt, S. 186-191.
Kann ein begrenzter Planet exponentielles Wirtschaftswachstum verkraften? Über diese Frage, die nicht nur Intellektuelle wie Harald Welzer, sondern auch die meisten Laien in der Regel ohne zu Zögern mit einem Nein beantworten, wird in politischen und wissenschaftlichen Debatten immer wieder aufs Neue gestritten. Spätestens seit Malthus’ berühmtem Essay on the Principle of Population (erschienen 1798) und Marx’ fundamentaler Kapitalismuskritik in Das Kapital und anderen seiner Schriften löst sie bis heute wiederkehrend heftige Diskussionen aus. Im 20. Jahrhundert haben renommierte Ökonomen, wie z.B. Keynes (1963), Boulding (1966), Galbraith (1969), Georgescu-Roegen (1979) oder Daly (1997), ebenso wie Systemtheoretiker vom Schlage Meadows (1972) oder Sozialwissenschaftler, wie Illich (1975), Wachtel (1983), Lutz (1984) oder Schor (1991) zu immer wieder neuen Zyklen der Aufmerksamkeit verholfen.
Nach der Wirtschafts- und Finanzkrise 2007 bis 2009 erlebt die wachstumskritische Debatte erneut Konjunktur und hält zu meiner persönlichen Freude – aber angesichts immer kurzlebigerer Diskurse auch zu meinem Erstaunen – bis heute an. Dies bezeugen etliche Beiträge von Latouche (2009), Jackson (2009), Miegel (2010), Heinberg (2011), Seidl und Zahrnt (2010) oder Paech (2012) bis zu Acosta (2015), D’Alisa, Demaria und Kallis (2016) und Adler und Schachtschneider (2017) – und Harald Welzer mischt in dieser anhaltenden Welle der Wachstumskritik gleich mit mehreren Werken (sowie zahlreichen Artikeln und Interviews) kräftig mit (z.B. Welzer 2011; 2014). Bei dieser langen Liste mit großen Namen ist es jedoch Welzer wie nur wenigen anderen gelungen, der bereits ausdifferenzierten Debatte noch einmal eine ganz eigene Perspektive angedeihen zu lassen. Und eine ganz eigene Ursachenbeschreibung für das wirtschaftliche Wachstum (als reales Phänomen) wie auch für das Erstarken des Wachstumsparadigmas als „Zentralkategorie des Realpolitischen“, wie er es nennt, zu liefern.
Die meisten wachstumskritischen Beiträge gehen nämlich von einer Prämisse aus, dass Wachstum durch systemische Einflussfaktoren bedingt wird. Sei es nun die Eigenlogik der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die Logik von Zins und Zinseszins, der internationale Standortwettbewerb in einer globalisierten Weltwirtschaft oder die gewieften Werbe- und Marketing-Strategien von Unternehmen, die laufend neue Shopping-Bedürfnisse wecken, die die Konsumenten sonst gar nicht hätten: In der Perspektive eines Großteils der Literatur entstammt Wachstum aus den sozio- ökonomischen Rahmenbedingungen, von denen oft behauptet wird, dass sie sich den Individuen als kaum beeinflussbar und beinah „alternativlos“ darstellen. Nicht so bei Welzer. Natürlich erkennt er die strukturellen Rahmenbedingungen an. Zugleich argumentiert er brillant, das Wachstum in der Moderne nicht nur systemische Ursachen hat, sondern auch – um hier einen Titel von Schopenhauer (1819) aufzugreifen – in Wille und Vorstellung des Einzelnen begründet liegt. Den einschlägigen Begriff, mit dem Welzer den Diskurs geprägt hat, lautet: mentale Infrastrukturen.
Der Begriff mentale Infrastrukturen macht deutlich, dass es eben nicht nur die Konzernzentralen, Banken, Börsen oder Ministerien sind, die laufend auf Wachstum drängen, sondern auch wir selbst mit unseren individuellen Wünschen, Leitbildern und Verhaltensgewohnheiten. Das zeigt sich zum einen ganz vordergründig, wie sich mancher Leser vielleicht selbst eingestehen wird, im Wunsch nach häufig mal neuen Klamotten, gerne steigendem Einkommen, immer exotischeren Urlaubsreisen. Doch der Wachstumswahn liegt, wie Welzer argumentiert, noch viel tiefer verankert, gleichsam in unseren emotionalen und kognitiven Haushalt eingebrannt. Er fundiert den Begriff der mentalen Infrastrukturen sogar neurowissenschaftlich: Man könne sich das menschliche Gehirn als biokulturelles Organ vorstellen, bei dem sich die Außenwelt stets in eine entsprechende Neuroplastizität des Organs übersetze. Daher würden Erfahrungen ökonomischer Wachstumszwänge, aber auch moderne (kapitalistische) Formen der Arbeitsorganisation und Lebenslaufgestaltung zu soziologischen und psychologischen Locked-in-Strukturen führen, die Wachstum im Ergebnis nicht nur als äußeren Zwang, sondern auch als inneres Bedürfnis konstituierten (siehe Welzer 2011, S. 12f.).
Welzers Begriff der mentalen Infrastrukturen ist nicht nur genial, weil er komplementär zum Begriff der materiellen, technischen oder sozio-ökonomischen Infrastrukturen steht. Und uns deswegen alle in die Pflicht nimmt: Wir können nicht länger mit dem Finger auf die Großen in Wirtschaft und Politik zeigen oder lamentieren, dass wir leider im falschen System geboren wurden. Die Betonung auf die ‚mentalen’ Wurzeln des Wachstums ist überdies genial, weil sie die meist ökonomisch, soziologisch oder politologisch geführte Wachstumsdebatte um psychologische und philosophische Zugänge erweitert. Und damit eine Fülle neuer Anknüpfungspunkte zu diversen tradierten Diskursen dieser Disziplinen erlaubt.
Politisch ist der Begriff mentale Infrastrukturen eine Kampfansage nicht nur an die Bewahrer des Status-Quo, sondern auch an die Bequemlichkeitspolitiker und – konsumenten die glauben, mit ein paar inkrementellen Verbesserungen lasse sich die Karren schon aus dem Dreck ziehen. Stattdessen legt Welzers Analyse der mentalen Infrastrukturen nahe, dass die sozial-ökologische Transformation unserer Gesellschaft nicht nur technische und politische Lösungen verlangt, sondern auch ein Umdenken und Umhandeln – ja mehr noch, eine kollektive Persönlichkeitsveränderung. Ökonomische Innovationen und veränderte Rahmenbedingungen, Solarpanels, Ökosteuern und gemeinwohl-zertifizierte Unternehmen alleine reichen nicht. Auch Bio-Lebensmittel und Ökotourismus zu konsumieren ist nicht genug. Eine Gesellschafts-Transformation erfordert soziale Innovationen und eine individuelle, persönliche Transformation.
Hier knüpft Welzer an vier Jahrzehnte Diskussion über nachhaltige Lebensstile, Suffizienz und ethisches Konsumverhalten an und katapultiert nebenbei auch die Lebensstil-Debatte in eine neue Dimension. Es geht nämlich nicht bloß darum, sich politisch korrekt zu verhalten, also nach Möglichkeit aufs Auto zu verzichten oder weniger Fleisch zu essen. Ebenso wenig reicht es aus, sich zu fragen, wie viel materieller Besitz für die persönliche Zufriedenheit genug sei. Wenn die sozial-ökologische Transformation gelingen soll, braucht es noch einer tieferen Ebene der Selbstreflexion: Wir müssen die Mechanismen und Prinzipien durchschauen, auf denen unsere Ideale und Wünsche, unsere Vorstellungen und Empfindungen von Zufriedenheit fußen.
Schließlich ist der Begriff der mentalen Infrastrukturen genial, weil Welzer aus ihm zwei zentrale Vorschläge ableitet, wie die Transformation praktisch umgesetzt werden kann. Erstens braucht es neue Leitvorstellungen. Die Leitvorstellungen „Fortschritt“, „Wohlstand“ und „Wachstum“, die seit der Industrialisierung unsere mentalen Infrastrukturen prägen, erscheinen nicht hinreichend, um eine verantwortungsvolle, nachhaltige und auf Fairness zielende Gesellschaft zu begründen. Wie aber können neue Leitvorstellungen entwickelt werden? Wir brauchen, sagt Welzer, eine Geschichte, die wir über uns selbst erzählen können – und zwar aus der Perspektive einer möglichen Zukunft: Wer möchte ich einmal gewesen sein? Wie möchte ich die Welt in 20 Jahren eingerichtet sehen, wie möchte ich sie meinen Kindern hinterlassen? Um mentale Infrastrukturen aufzubrechen müssen wir im Futur II denken und sprechen.
Die Frage zu beantworten, wie man im Jahr 2030 oder 2050 gelebt haben möchte, und darüber Visionen zu entwickeln, die Menschen bewegen und neue Identitäten stiften, kann nicht nur abstrakt gelingen. Daher braucht es zweitens auch das aktive, konkrete Ausprobieren von neuen Lebensentwürfen. Denn das Business-as-usual, die uns allgegenwärtig umgebenden materiellen und institutionellen Infrastrukturen (Supermärkte, Autobahnen, Pisa-Tests usw.) haben eine ungeheure Macht, weil wir uns täglich in ihnen bewegen. Erst wenn jeder für sich konkret lebt und erlebt, wie er sich eigentlich wünscht, zu leben, können sich die mentalen Infrastrukturen verändern. Erst, wenn sich der Protest gegen das Fliegen und nicht gegen die Flughäfen wendet, bringt Welzer es auf den Punkt, bietet er eine handfeste Intervention gegen die materiellen, institutionellen und mentalen Infrastrukturen des Wachstumszeitalters.
Fangen wir also an, selbst und frei zu denken. Und fangen wir bei uns selber an, um unsere eigenen mentalen Infrastrukturen aufzubrechen. Wie hat Michael Jackson schon in seiner Ballade Man in the Mirror (1984) gesungen: „If you wanna make the world a better place, take a look at yourself and make a change“. Doch zum Glück ist Welzer der bedachtere Popstar und verfällt nicht der infantilen Einbildung, wir als Einzelne könnten gleich die Welt verändern. Wenn wir unsere mentalen Infrastrukturen transformieren, geht es nicht in erster Linie darum, die Gegenwart zu verbessern. Sondern vor allem darum, die Zukunft neu erfinden zu können.
Literatur
Acosta, Alberto (2015): Buen Vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben. München.
Adler, Frank/ Schachtschneider, Ulrich (2017): Postwachstumspolitiken. Wege zur wachstumsunabhängigen Gesellschaft. München.
Boulding, Kenneth E. (1966): The Economics of the Coming Spaceship Earth. In: Jarrett, H. (Hrsg.): Environmental Quality in a Growing Economy. Baltimore, S. 3-14.
D’Alisa, Giacomo/ Demaria, Federico/ Kallis, Giorgios (Hrsg.)(2016): Degrowth. Handbuch für eine neue Ära. München.
Daly, Herman E. (1997): Beyond Growth – The Economics of Sustainable Development. Boston.
Fromm, Erich (1976): Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. München.
Galbraith, John Kenneth (1969): The Affluent Society. Second Edition, Revised. Boston. Georgescu-Roegen, Nicholas (1979): Demain la décroissance. Paris.
Heinberg, Richard (2011): The End of Growth. Adapting to Our New Economic Reality. Gabriola Island.
Illich, Ivan (1975): Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik. Reinbek.
Jackson, Tim (2009): Prosperity Withouth Growth. Economics for a Finite Planet. London.
Keynes, John M. (1963): Essays in Persuasion [1932]. New York.
Latouche, Serge (2009): Farewell to growth. Cambridge/ Malden.
Lutz, Burkart (1984): Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Frankfurt.
Marx, Karl (1980): Das Kapital [1867]. Nachdruck der Erstausgabe, herausgegeben von Fred E. Schrader. Hildesheim.
Meadows, Donella H./Meadows, Dennis L./Zahn, Erich K. O./Milling, Peter (1972): Limits to Growth: A Report for the Club of Rome’s Project on the Predicament of Mankind. New Y ork.
Miegel, Meinard (2010): Exit. Wohlstand ohne Wachstum. Berlin.
Paech, Niko (2012): Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie. München.
Schopenhauer, Arthur (1819): Die Welt als Wille und Vorstellung. Leipzig.
Schor, Juliet B. (1991): The Overworked American. The Unexpected Decline of Leisure. New Y ork.
Seidl, Irmi/ Zahrnt, Angelika (Hrsg.)(2010): Postwachstumsgesellschaft. Konzepte für die Zukunft. Marburg.
Wachtel, Paul L. (1983): The Poverty of Affluence. New York.
Welzer, Harald (2011): Mentale Infrastrukturen. Wie das Wachstum nicht nur in die Welt, sondern auch in die Seelen kam. Berlin: Heinrich Böll Stiftung.
Welzer, Harald (2014): Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand. Frankfurt.